2010 | Modell Andorra

von Stefan Graf nach Max Frisch

Spiel
Severine Herzig | Martina Mösle | Nina Neuweiler | Fabienne Schwizer | Flavia Vinzens |Johannes Boetschi

Regie
Stefan Graf

Assistenz
Conny Marty

Layout
Andreas Halter

Produktion
Adrian Strazza

Bühne
Lukas Ammann

Musik/Ton
Stefan Graf

Kostüme
Nicole Haraszt

 

 

Presse

St. Galler Tagblatt, 7. Mai, 2010

Aussenseiter namens Mensch

Der Regisseur Stefan Graf hat für das Jugendtheater U21 «Andorra» von Max Frisch als «Modell» neu bearbeitet. Ein Theaterabend, der in seiner dichten Erzählweise sehr berührt.

Brigitte Schmid-Gugler

Man müsste mit diesem Text Unterführungen, Wartehallen, Busse und und vielleicht auch noch Gotteshäuser dauerberieseln. Und dann müsste man noch alle Lehrer dieser Stadt dazu auffordern, mit ihren Schulklassen in den Jugendkulturraum Flon im Lagerhaus zu gehen. Oder «Modell Andorra» in die Klassenzimmer holen. Egal wie, nur sehen sollten Jugendliche, wie erstens Max Frischs Klassiker in die täglichen Diskussionen um religiöse und kulturelle Definitionsversuche passt, wie zweitens sechs junge Leute das Thema einfühlsam und äusserst präsent auf die Bühne bringen; drittens kann man einmal mehr erleben, welche Chance theaterbegeisterte junge Leute in dieser Stadt erhalten: In der Begleitung von professionellen Theaterpädagogen können sie sich mit literarischen Stoffen und dem Medium Theater auseinandersetzen, ein Stück erarbeiten und aufführen und dabei nicht zuletzt manches über sich selber lernen.

Für die diesjährige Produktion hat Regisseur Stefan Graf, neben Adrian Strazza und Lukas Ammann der Dritte im Bunde des Leitungsteams U21, eine eigene Fassung von Max Frischs «Andorra» erarbeitet. Er hat sich dabei auf die Zahl und das Geschlecht der an der Produktion beteiligten Jugendlichen gestützt und für die fünf weiblichen und den einzigen männlichen Beteiligten, allesamt zurzeit in einer Berufslehre, eine komfortable, unangestrengte Form der Darstellung gefunden.

Von nichts gewusst

Im Raum bildet die tragende Säule das zentrale Bühnenelement (Bühne: Lukas Ammann). An ihr sind gefüllte Weihwassergefässe befestigt, in dem sich die Andorraner, wenn sie sich wieder einmal ahnungslos zur tragischen Entwicklung in ihrem Dorf äussern, ihre Hände buchstäblich in Unschuld waschen. In diesem Dorf, dessen Häuserfassaden von den Frauen geweisselt werden, als wären wir zmitzt in Griechenland. Oder sonst in einem Land, das nicht nur winters die Farbe Weiss für ahnungslosen Schnee von gestern nimmt.

Um die Säule herum sind Haken befestigt für die Seilzüge (es könnte auch eine Felswand sein), an denen Menschen baumeln, Marionettenmenschen, Opfer und Täter zugleich (Puppen: Nicole Haraszt). Es handelt sich um die ausgestopften «realen» Figuren des Stücks – der Vater und Lehrer, die Mutter sowie Tischler, Pfarrer, Soldat und Andris Mutter, die Señora. Abwechslungsweise werden sie von der Decke geholt, um ihren Part beizutragen zum bösen Spiel im sauberen Dorf.

Andorra ist überall

Severine Herzig, Martina Mösle, Nina Neuweiler, Fabienne Schweizer, Flavia Vinzens und Johannes Boetschi, deren assortiert grün-weisse Kleidung man geneigt ist, als Symbol für hemmungslosen Fanatismus zu verstehen, geben den Figuren ihre Stimme, treten neben und hinter sie, schlüpfen für kurze Passagen selber in die Figur und spalten sich wieder ab, hängen die Puppen an den Haken zurück, treten als Erzählende vors Publikum. Sie zitieren, so nebenbei, aktuelle Leserbriefe aus der Zeitung zur Minarett-Initiative und Überfremdung und setzen sich dann ins Publikum, das rings um die Spielfläche sitzt. Wir sind mitten drin. Gehören dazu. Beklemmend, die scharf konturierte Deutung Grafs, die dem «Denkspieler» Max Frisch so wichtig war: Andorra, Feigheit, Stigmatisierung, Verrat geschehen überall, und ein «Jude» ist, wer von anderen dazu gemacht wird. Besonders erwähnt werden muss die schauspielerische Leistung von Martina Mösle als Barblin und Johannes Boetschi als Andri. Zwei Talente, die so berührend und locker spielen, als wär’ das Bühnenspiel ein Kinderspiel.