von Stefan Graf
Spiel
Deborah Egger | Dennis Egger | Andreas Halter | Deborah Holdener | Martina Mösle | Carola Nänny | Louisa Keel | Ann-Marie Schmalz
Regie
Adrian Strazza
Assistenz
Isabelle Rechsteiner
Produktion
Adrian Strazza
Bühne
Stefan Graf | Lukas Ammann
Musik/Ton
Stefan Graf
Kostüme
Nicole Haraszt
Presse
St. Galler Tagblatt, 20. Mai, 2008
Von Atlantis auf den Mars
Im Flon zeigt die Jugendtheatertruppe U21 ihre diesjährige Eigenproduktion
St. Gallen. Wer träumt nicht von einer anderen, einer besseren Welt! Letztes Jahr segelten die Blaufransen nach Atlantis, und dieses Jahr fliegt ein bunter Hausbewohnerhaufen samt Kajütenbett Richtung Mars.
Brigitte Schmid-Gugler
Ein Wohnblock ist immer gut für Geschichten. Für wirkliche und für erfundene. Ein Biotop für Phantasie, Vermutungen, Heucheleien, Streitigkeiten, für Annäherung und Utopien. Aber beginnen wir ganz vorn. Beim Klebeband, das im düsteren Halbdunkel mit sicheren Griffen transparente Wohneinheiten eingrenzt. Mehr als diese minimalistische Theaterdekoration braucht es nicht, um übereinanderliegende Wohnungen installativ zu kennzeichnen. Den Zuschauern bietet sich so ein horizontaler Einblick in das Geschehen. Je nach Standort sieht man direkt in das Zimmer der jeweiligen Bewohner: Links aussen der vermeintliche Kriminalbeamte Gerber, neben ihm die Hauswartin Studer, der zwielichtige Philipp und Frau Regierungspräsidentin Mosimann, dieser gegenüber die Rollstuhlfahrerin Isabelle Benoit, das Möchtegern Model Dina, das Kind Annegret und der Dichter Christian Voirol.
Wenn es Nacht wird in diesem Haus, beginnt für Letzteren der Tag. Er sitzt an seiner Schreibmaschine und träumt. Vom Dichten. Vom grossen Wurf. Vom Abheben. Vom Fliegen. Vom Ankommen in einer besseren Welt. Und davon, wie er sich in einer heldenhaften Tat vor dieser hier retten wird. Dann kommt der Morgen, und mit seinem Licht sieht man endlich richtig rein in die guten Stuben. Der Dichter schläft und das Haus wacht auf. Annegret räkelt sich in ihrem Kajütenbett, füttert ihre Stofftierli und parliert mit einer unsichtbaren Mutter. Polizist Gerber trainiert am Boxsack seine Muskeln, Madame Benoit streichelt ihr Katzentier, «Königin» Mosimann erhält Telefonanruf von Unbekannt, die Putzfrau beginnt zu fegen, und die schöne Dina erhebt sich aus der Badewanne, wo sie die Nacht zu verbringen beliebt.
Irrwitzige Collage
Sonderbare Dinge geschehen hinter diesen Klebebandwänden. Nichts ist so, wie es scheint, und noch während wir versuchen, zwischen den einzelnen Wohneinheiten eine Ordnung zu schaffen, sind wir mitten drin in einem Science-Fiction-Roman. Die Menschen sind nicht die, die sie vorgeben zu sein – oder sind sie es doch? Handelt es sich hier um eine verschworene Bande, um lauter Spitzel eines Plots, oder um den Club der Einsamen, die sich ihren Traum vom eigenen «Heldentum» zurechtzimmern? Wie bei Franz Hohler der Berg, donnert es böse aus dem Erdreich, das (Seelen-)Interieur wackelt, die Hausbewohnerinnen und -bewohner «stranden» in der Waschküche, wo die sprechende Waschmaschine ihre Ratschläge erteilt. Genau so, wie das Stück entstanden ist, präsentiert es sich: teilweise konturlos konfus antiheldenhaft zwischen Alltagsgeschichten und Fiktion.
Der Produktionsleiter und Regisseur Adrian Strazza strebte eine Art theatralisch umgesetzten Blog an. Im Vorfeld der Inszenierung konnten die jungen Darstellerinnen und Darsteller in einem aufgeschalteten Forum am Text mitwirken. Aus dem Sammelgut dieses Austauschs entwickelte Stefan Graf den Stoff zu «Helden des Alltags, when things are getting spacy». Spacy, ausgeflippt ist der gemeinsame Traum dieser Alltagshelden, der bevorstehenden Apokalypse zu entkommen.
Lebensängste vermischen sich mit Allmachtsphantasien; mit dem Wunsch etwas Besonderes zu sein; am liebsten ein Held, eine Heldin. Und doch dringt durch diese grosse Helden-Sehnsucht die Furcht vor dem Versagen, die Angst, ganz klein, unbedeutend, unbeachtet zu bleiben.
Gratwanderung
Wären da nicht die Flügel der Phantasie. Auf ihren Schwingen wird diese Hausgemeinschaft zu einer verschworenen Bande, dieser Blog-Block zu einem Pulk ulkiger Charaktere. Hinter dem ganz banalen Alltag zwischen Treppenhaus, Waschküche und Wohnungstüre irrlichtert der Geist des «Heldentums». Als ob die einzelnen Figuren aus einem Computerspiel heraustreten würden, verknotet sich ihre Identität mit einer komplizenhaften zweiten.
Auf dieser Meta-Ebene geschieht Absurdes, Märchenhaftes. Die verschworenen Apokalypse-Theoretiker finden endlich die ultimative Black Box (als Metapher der abgestürzten Träume?) mit deren Hilfe sie auf dem fliegenden Kajütenbett ins Weltall entfliehen, wohin man Madame Benoits «Flughund» Artus schon mal vorausgeschickt hat.
Strazza legt das Spiel im Spiel mit vielen originellen Regiegriffen aus, lässt diese aber teilweise schnell zerfleddern. Immer dann, wenn wir meinen, der Geschichte habhaft zu werden, entgleitet sie uns gerade so, als hätte sich ein virtuelles Virus ins Haus geschlichen.
Auf dem schmalen Grat dieses dramaturgisch nicht ganz risikofreien Projekts bewegen sich die sechs Darstellerinnen und zwei Darsteller mit tänzerischer Leichtigkeit. Sie sind die wahren Helden dieses Abends, federn die teilweise nicht ganz ausgereifte Absicht einer Slapstick-Komödie mühelos und mit einer bemerkenswerten schauspielerischen Wandlungsfähigkeit ab.